Continental Drift

Deborah White ist der Grund, warum wir heute hier zusammen gekommen sind: eine interessante Mischung von Menschen aus aller Welt, neugierig ihre erste Ausstellung in Europa zu sehen, um genau und ehrlich zu sein: ihre erste Ausstellung - außerhalb ihres Heimatlandes. Es ist aufregend für sie, wie ich vermute, aber auch für mich, denn es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Ehre habe, eine solche Ausstellung zu eröffnen und die Künstlerin Menschen vorzustellen, die mutmaßlich viel mehr Ahnung von Kunst haben als ich. Allerdings konnte ich nicht vermeiden, dass ich den vergangenen Jahren als ARD Korrespondent in New York häufig berichtet habe über bemerkenswerte Ausstellungen und Künstler, ob in Soho, Williamsburg, Long Island City oder der Bronx, - im PS1 oder im Museum of Modern Art, im Whitney, Guggenheim, Metropolitan oder auch im Central Park: The Gates. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Gisa und Winfried Radinger, die Galeristen, geglaubt haben, dass ich vielleicht die richtigen Worte finde. Also: ich werde es versuchen.

Zunächst habe ich jedenfalls in New York gelernt: fasse Dich kurz! In Amerika gibt es heute so gut wie keine Einführungen mehr bei Vernissagen. Die Kunstsammler kommen einfach vorbei. Denn Kunst spricht für sich selbst. Jeder entdeckt ohnehin irgendetwas anderes, einzigartiges in einem Bild. Es hängt ab vom eigenen Hintergrund, der Erwartung, dem Standpunkt und oft auch der Stimmung. Der individuelle Augenblick der Betrachtung unterscheidet sich nicht vom individuellen Augenblick des Malens. Debbie reiste nach Spanien, sah dort zufällig eine Ausstellung von Antoni Tapies, der einen starken Eindruck auf sie machte: einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler Europas, der selbst nie Kunst studiert hat, eigentlich eher ganz das Gegenteil, wenn ich das hier sagen darf, nämlich Jura. Aber er wurde inspiriert anfangs von Picasso, später von großartigen Surrealisten wie Mirós, Ernst und Klee. Bis dahin liebte sie es zu zeichnen oder zu malen, was sie schon als Kind gemacht hat, zum reinen Vergnügen, wie viele von uns. Ihr Einkommen verdiente sie bis dahin in der kommerziellen Werbebranche. Ihr Kunde in den letzten sieben Jahren war ein amerikanischer Patriot. Insbesondere nach dem 11.September musste das gesamte Layout immer rot-weis-blau gestaltet sein und so billig wie möglich. Debbie überkam die Langeweile. Immerhin: ihre zwanzigjährige Arbeit in der Werbebranche brachte mit sich, dass sie viel reisen musste, und ihre Liebe zu den Rolling Stones: Ihre Begeisterung für ihre Musik und ihr Wunsch, sie so oft wie möglich live auf der Bühne zu erleben. Vor rund einem Vierteljahrhundert waren sie in Chicago mit Muddy Waters, wo Debbie lebt, und seit Mitte der 90er Jahre begann Debbie ihnen, wann immer möglich zu ihren Konzerten zu folgen. Sie wurde Mitglied einer Fan-Gruppe im Internet.

Debbie begann, häufig nach Europa zu reisen, erst Italien, dann Spanien, wo sie eine Ausstellung von Antoni Tapies zu sehen bekam. Sie hatte ihn schon vorher bewundert, aber in Barcelona klappte ihr Kiefer nach unten und sie starrte stundenlang eines seiner Bilder an. Er hat sie inspiriert. Für sie ist er ein wirkliches Genie. Wie Tapies hat sie sich die Technik des Malens selbst beigebracht. Sie hat sich für Acryl als Material entschieden. Zwar hatte sie schon eine Grundlage, da sie am Anfang ihrer Laufbahn zur Kunstschule gegangen war, jedoch um Grafik-Design zu studieren für Werbe-Layouts. Offensichtlich ist das aber der Grund, warum ihr der abstrakte Expressionismus als Stil leicht fiel und warum sie so gern Bilder malt "mit Wörtern drin". Dies sind oft Wörter, Textzeilen aus Liedern der "Rolling Stones". Ein Beispiel: Sie werden hier ein Bild sehen mit dem Titel "Das Salz der Erde - Salt of the Earth". Debbie hat mir erzählt, dass es von den Menschen handelt, die sie durch ihre Rolling Stones - Internetgruppe in den vergangenen zehn Jahren kennen gelernt hat. Das Bild ist ihnen gewidmet, der engen Freundschaft, die entstanden ist. "Salt of the Earth" Menschen gibt es überall, man muss sie nur finden. Der Begriff stammt aus einem Lied der Rolling Stones. Die Textzeile lautet:"Lasst uns anstoßen auf die hart arbeitenden Menschen -lasst uns anstoßen auf das Salz der Erde."

Kurz noch ein zweites Bild, auf das ich hinweisen möchte: "Continental Drift" - die Verschiebung der Kontinente. Unter dieser Überschrift steht auch die Ausstellung heute. Sie finden den Ausriss einer Zeitung am unteren Bildrand. Die Schlagzeile auf Spanisch bedeutet: Reflektionen der Stimme. Das Bild handelt von Menschen an weit entfernten Orten, die Erinnerung an ihre Akzente aus den verschiedenen Ländern. Heute Abend brauchen wir keine Erinnerung daran, wir können sie auch hören. Deborah White hat den Kontinental-Bruch überbrückt. Die zwei Beispiele erleichtern das Verständnis dessen, was Deborah White selbst in einem Statement zu ihrer Kunst sagt: Ihre Bilder handeln von Verbindungen. Sie verbinden in einzigartiger und persönlicher Weise einen Ort oder ein Ereignis. Sie versucht den Kern durch Farbe, Form und Struktur zu vermitteln. Indem sie Zeitungsausschnitte oder andere gedruckte Buchstaben einflechtet, die sie auf ihren Reisen gesammelt hat, konkretisiert sie das Werk und macht es spürbar authentisch. Sie liebt es, viele Strukturen und Ebenen in einem Bild miteinander zu verflechten. Und nur wenn diese Ebenen völlig miteinander verwoben und verbunden sind, ist das Bild vollendet."

Deborah White wurde in einer amerikanischen Kleinstadt geboren, Ann Arbour, Michigan, eine Stadt von der Größe Castrop-Rauxels. Nach ihrer erfolgreichen Karriere in der Werbewirtschaft hat sie nun den Rubikon überschritten. So sieht sie es selbst. Als Caesar 49 vor Christus den Rubikon überquerte, wusste er, es gibt keinen Weg zurück. Und das haben auch die Rolling Stones besungen, eine Weile später in ihren "Streets of Love". Und genau das hat Debbie empfunden, als sie mit dem Malen begann. Debbie ist davon überzeugt, dass alle von uns irgendwann ihre persönlichen "Rubikons" hatten oder haben werden. Wir können uns jetzt einige Ergebnisse ihres "Rubikon" anschauen, die an der Wand hängen. Tapies war ihr Startpunkt, sozusagen ihr Flughafen. Die Rolling Stones ließen sie abheben und fliegen zu Orten – u.a. - wie Washington, Amsterdam, New York, London, Paris, Stockholm - und in Stockholm traf sie Johannes Delmere. Natürlich waren beide zu einem Rolling Stones Konzert gekommen. Und er stellte den Kontakt zu Gisa und Winfried Radinger her, und so ist sie jetzt in Castrop-Rauxel gelandet. Eines ihrer Bilder hat sie "Hand des Schicksals" benannt - das aus Stockholm. Diese Hand des Schicksals, des Zufalls hat sie von dort nach Castrop-Rauxel gebracht. Und jetzt noch ein paar Worte, gerichtet an alle Gäste, die von überall aus der Welt hergekommen sind, nur für diesen Anlass: aus England, Dänemark, Puerto Rico und verschiedenen Staaten der USA. Sie sind Debbie gefolgt zu diesem Ort und versuchen vermutlich noch immer, ihn richtig auszusprechen. Zugegeben: Castrop-Rauxel ist nur ein kleiner Ort zwischen großen deutschen Städten wie Düsseldorf, Köln oder Dortmund, aber es liegt im Herzen eines urbanen Ballungsraumes. So wie Hoboken, New Jersey, ein kleiner Fleck zwischen New York and Newark, aber: Frank Sinatra wurde dort geboren. Als ich vergangenes Jahr nach über sechs Jahren aus New York zurück kam und in Castrop-Rauxel landete, habe ich die Stadt sofort geliebt. Vor allem die Menschen hier: ihre Kreativität, Neugier, Offenheit und Freundlichkeit… Ich hoffe, unsere internationalen Gäste werden das selbst herausfinden. Und Sie - die deutschen Kunstfreunde - werden entdecken, wie Debbie White nicht nur den Atlantik, sondern ihren persönlichen Rubikon überquert hat. Und ich glaube, dass auch die Rolling Stones eine Rolle dabei gespielt haben, dass wir alle heute zusammen gekommen sind. Deshalb viel Spaß, und die letzte Zeile der Stones bleibt unübersetzt: "let it steal your heart away".

Gerald Baars
Castrop-Rauxel, 8. März 2007