Tanja Selzer – Surface

Ein kleines Bild zeigt einen „Mann im Mohn“ (2009). Die Blüten reichen ihm bis zur Hüfte, das Feld ist groß, der Mann allein. Eine idyllische Szene. Aber die Brille des Mannes ist sonderbar rot. Oder sind es seine Augen? Die Blüten verschwimmen, der Himmel nimmt die Farbe der Blütenblätter an, alles wird Mohn, alles gefährlicher Rausch. Die Stimmung kippt.

Schönheit und Unbehagen gehen in Tanja Selzers Bildern eine untrennbare Verbindung ein. Hirsche im Wald, nachts aufgeschreckt und geblendet mit weitaufgerissenen Augen. Ein schnappender Hund: Ist es Spiel oder bald schon blutiger Ernst? Was hält die kniende Frau in ihren Händen? Die Künstlerin führt uns mit genau gesetzten Akzenten hinter diese oft trügerisch schönen Oberflächen und lenkt damit das Bild zu einer Wahrheit, die das Gezeigte um das Ungezeigte vervollständigt.

Die Bilder entstehen in einem komplexen Prozess, der mit den Weg des Bildes von seinem Ursprung aus beginnt und bis in diese Ausstellung reicht: Irgendjemand ist in einem fernen Ort Augenzeuge eines Geschehens und hält es im Foto fest. Er schickt es an irgendeine Redaktion, irgendein Bildredakteur veröffentlicht und bringt es in endloser Vervielfältigung in Umlauf. Das Bild zeigt, jetzt tausende von Kilometern entfernt, eine aus dem Zusammenhang gerissene Wirklichkeit. Scheinbar mühelos überbrückt es Distanz und Zeit. Wir schlagen die Zeitung auf, stellen den Fernseher an und werden Augenzeugen einer Illusion.

Tanja Selzer setzt die Verwertungsreihe fort. Sie fotografiert das Bild mit ihrer Handykamera, druckt es aus, um es erst dann in einem vielschichtigen Prozess in Malerei umzusetzen: Auf die Vorzeichnung trägt sie Ölfarbe auf, oft so dünn und lasierend, dass die Bleistiftspuren sichtbar bleiben. Bevor sie trocknet, richtet Tanja Selzer die Leinwand auf, so dass die Farbe, der Schwerkraft gehorchend, über das Bild fließt. Es entstehen Ströme und Leerstellen. Diese werden noch einmal mit dem Pinsel übermalt, in horizontaler Richtung mit einem Spachtel verzogen oder im getrockneten Zustand und flachliegend mit Lösungsmittel oder verdünnter Farbe besprenkelt.

Wie verändern sich die Aussagen dieser Bilder, wenn sie gemalt werden? Wieder werden wir Augenzeugen einer Illusion. Diesmal jedoch wird sie brüchig. Die Leerstellen in den Bildern, die Wolken, die den Blick auf die unbemalte Leinwand ermöglichen, erzwingen die Erkenntnis, dass wir keineswegs Beobachter eines fernen Ereignisses werden. Die Malerei gibt diesem seine Distanz zurück, aus abgebildeter Wirklichkeit wird Wahrheit: Wir stehen in einer Galerie und betrachten ein Bild.

Schon im 19. Jahrhundert setzte sich der französische Maler Edouard Manet mit der trügerischen Oberfläche der Leinwand auseinander und setzte in seinen Gemälden ebenso Leerstellen, um die Illusion einer gemalten Wirklichkeit zu durchbrechen. Ist es Zufall, dass man in Tanja Selzers Bild „Wiese“ (2009) Manets „Frühstück im Freien“ aus dem Jahre 1863 wieder zu erkennen glaubt?

Tanja Selzer, geb. 1970 in Idar-Oberstein, studierte in Hamburg an der Hochschule für angewandte Wissenschaften / Fachbereich Gestaltung und lebt seit 2003 in Berlin. Seit 2005 sind ihre Arbeiten in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen.