Organic System

Jetzt hängt sie – die Ausstellung Organic System von Jürgen Middelmann. Sie hängt in diesen wunderbar großzügigen, Lichtdurchfluteten Räumen. Und ich freue mich. Ich freue mich, dass es ausgerechnet diese Galerie ist, in der die Werkreihe erstmals einem größeren Publikum gezeigt wird. Denn Sie, liebe Radingers, sind mit sehr viel Liebe und Wertschätzung daran gegangen, die Bilder zu hängen und eine schöne Vernissage zu organisieren. Ganz, ganz herzlichen Dank dafür!
Und ich freue mich, dass Sie alle heute hier sind – zum Teil von „umme Ecke“, zum Teil aber auch von weither.

Natürlich freue ich mich auch, dass ich die Eröffnungsrede halten darf. Schließlich habe ich die Entstehung der Arbeiten von Beginn an mit verfolgen dürfen: All die Stufen des Entdeckens und Verwerfens, des Ringens und Wachsens.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Entstehung von Kunstwerken sozusagen von der Pike auf miterleben durfte. Und ich kann Ihnen sagen, das war nicht immer einfach auszuhalten.

Wie oft bin ich in Jürgen Middelmanns Atelier, das im Hinterhof einer ehemaligen Stuckwerkstatt in der Bonner Altstadt liegt, gekommen, habe ein Bild gesehen, an dem er gerade arbeitete und habe gedacht: Schön. Das ist richtig schön.

Und im Hinterkopf, manchmal, ich gebe es zu, da tauchte der Gedanke auf: Das lässt sich gut verkaufen! Das ist wohnzimmerkompatibel. Aber der Maler sagte: Nein, das ist noch nicht fertig. Es ist irgendwie zu hübsch. Das ist noch nicht stimmig.

Und dann hat er es übermalt, überarbeitet, wieder und wieder. Und das nächste Mal, als ich sein Atelier besuchte, da sah das Bild gar nicht mehr so toll aus. Ich hätte weinen können und dachte: Jetzt hat er es kaputt gemacht! Warum kann er so´n Bild nicht einfach mal stehen lassen!

Doch dann, irgendwann, stand ein strahlender Jürgen vor mir und sagte: Jetzt ist es fertig!
Ich habe es mir angesehen, ein wenig widerwillig und voreingenommen. Aber tatsächlich: Da war etwas gewachsen. Etwas, das ich als Nicht-Maler auf den ersten Blick gar nicht recht fassen konnte. Plötzlich war es kein hübsches Bild mehr aus lauter zusammengestellten bunten Farben und Formen.

Da war etwas, das gehörte zusammen - egal, welche Position ich einnahm, welches Licht darauf fiel: Morgen, Mittag, Abend, regnerisch grau oder warm sonnendurchflutet. Es hielt stand – auch meinen Launen, mit denen ich es betrachtete. Es wuchs sogar mit ihnen, veränderte sich. Mal sah ich Landschaften, mal Melodien, mal Traurigkeit, mal expressive Lebensenergie.

Je nach Licht und Laune erschienen neue Farben, neue Eindrücke – ja, Erkenntnisse. Nicht Erkenntnisse über den Zustand der Welt. Nicht über Lösungen von Problemen. Sondern über das Wesen des Wachsens und Vergehens. Über das Zusammenspiel schöner und herber, dunkler und lichtvoller Phasen. Wie im richtigen Leben.

Ich war platt. Wie hat er das hingekriegt?

Aber so was fragt man einen Maler lieber nicht. Besser ist es, man schaut sich einmal ein Bild an. Nehmen wir das große Bild hinten an der Wand. Es trägt den Namen „Ohne Titel“. Was ja an sich schon gemein ist. Denn so stehen wir ohne Anleitung vor dem Bild und denken: Was will der Künstler damit sagen?

Doch dieser Frage aus dem Kunstunterricht, die uns von klein auf darauf trainiert, die Botschaft im Bild herauszufinden, statt sich dem Erlebnis des Schauens zu überlassen, verweigert sich Jürgen Middelmann. Wir müssen also selber gucken. Tun wirs!

In diesem farbenprächtigen Ölgemälde – mich erinnert es manchmal an eine Ziehharmonika, manchmal an die visuelle Übersetzung einer Melodie durch Synthesizer – in diesem Gemälde liegen unzählige Farbschichten übereinander. Manchmal sind es so viele, dass die Farbe bricht und einen Blick in die Entstehungstiefe erlaubt. Diese Flächen wirken rissig – wie Baumrinden. Man möchte sie anfassen, ja, begreifen.
Immer wieder aber gibt es Flächen, die ausgespart bleiben, so dass das Unterliegende sichtbar bleibt und an manchen Stellen sogar die Leinwand wie ein Urgrund hindurch scheint.
Wenn man dieses Bild betrachtet, bekommt man einen Eindruck davon, dass jemand hier nicht einfach Farbschichten nebeneinander setzt, auf dass ein abstraktes Bild entsteht, das schön anzusehen ist.

Denn das Dekortative ist Jürgen Middelmann fremd. Dekoration – das ist Unterhaltung. Das ist Ästhetik um der Ästhetik willen. Und das ist völlig in Ordnung. Nichts gegen Dekoration. Aber Jürgen Middelmann geht es um etwas anderes.

Natürlich kommen auch bei ihm schöne Bilder heraus. Aber seine Fragestellung ist eine andere: Ihm geht es um das Wesen der Dinge. Er ringt mit der Frage:

„Wie macht man aus einem Bild ein solch organisches Geflecht, wie wir es in der Natur vorfinden? Wie kann ein Bild genauso wachsen, wie die Natur wächst - bis zum Aufblühen, bis zur Unumstößlichkeit des Vorgangs, bis jeder Zweifel ausgeräumt ist und Harmonie ins Chaos gebracht wurde?“

Als Vorgehensweise hat er dazu die Schichtung gewählt. Die Bilder wachsen – Farbschicht um Farbschicht. Und obwohl die Bilder sehr leuchtend farbig erscheinen, sind es immer nur einige wenige Farben, die er vor dem Auftragen miteinander vermischt. Dadurch vermeidet er scharfe Kontraste und erweckt den Anschein, als reichten sich die Farben von Fläche zu Fläche weiter, so dass sich ein innerer Zusammenhalt herausbildet, der bei einigen Bildern als unterliegender Klangteppich wahrnehmbar wird, aus dem immer wieder einzelne Töne hervorbrechen.

Das zeigt sich besonders deutlich in dem Bild Organic System VI – auch hier verweigert sich der Künstler wieder jeder Interpretation durch eigene Vorgaben.

Wenn man sich einmal so umschaut, erkennt man, dass bei den Bildern die Formen zugunsten der Farbe stark reduziert sind. Sie variieren zwischen Ellipsen und Rechtecken. Erstere ergeben ein weiches, fließendes natürliches Gefüge.
Die Rechtecke hingegen sind sperriger und erinnern an Pixel oder architektonische Formen. „Mir scheint manchmal“, so Jürgen Middelmann, „dass ich einen Platz auf der Leinwand suche, der die Natur und die Stadt in eine neue Wirklichkeit, in eine Bildwirklichkeit übersetzt.“

Diese Wirklichkeit hat er jedoch nicht ausformuliert, wenn er ein Bild beginnt. Nur die Vorgehensweise der Schichtung ist geplant. Die Bildkomposition selbst entsteht in jedem Moment des Malens neu. Immer wieder werden Teile verworfen, übermalt, verwandelt, verdichtet.
Da finden sich Formen, die sich über das ganze Bild erstrecken. Sie bilden Linien und führen. Es gibt große Flächen, die Gewicht und Ruhe vermitteln. Und es gibt Kleinteiligkeit, die sowohl für Unruhe, aber auch für Dichte sorgt. So entsteht der Eindruck von Ausgleich und Ausgewogenheit, aber auch von Aufbruch, der neue immer wieder neue Prozesse in Gang setzt: Eine bewegte Ruhe entsteht.

Das klingt wie ein Gegensatz. Ist es aber nicht. Diese bewegte Ruhe hat ihre Entsprechung beispielsweise im Aufblühen einer Blume: Da entfaltet sich eine Knospe zur Blüte, strahlt auf, als wolle sie ewig bleiben, als sei nun der Prozess abgeschlossen. Doch zur gleichen Zeit – unsichtbar noch für den Betrachter – beginnt sie zu welken, was wiederum den Beginn neuen Wachsens einläutet.

Jürgen Middelmanns Malerei entsteht nicht aus einer intuitiven Laune heraus. Sie ist das Ergebnis intensiven Schauens.

Ich lade Sie dazu ein auf einen Spaziergang mit Jürgen Middelmann. In solchen Situationen, das verrate ich Ihnen schon jetzt, habe ich sehen gelernt, sehen auf eine neue Art.

Wir gehen also über den Bürgersteig, einen x-beliebigen Bürgersteig. Die Sonne scheint. Und man nimmt so nebenbei den Schatten eines belaubten Astes auf dem Asphalt wahr. Man nimmt - so nebenbei – wahr, wie dieser Schatten im Wind wippt. Mehr nicht. Das einzige, was einem auffällt ist, dass schon seit längerem kein Wort mehr gefallen ist. Und so als Frau macht einen das nervös und man fragt ihn: Was denkst du? Und er sagt: Ich gucke Farben. Und man folgt seinem Blick und sieht, wie der Wind und das Licht und der Schatten miteinander spielen. Wie sie Muster entwerfen und sich die Muster fast – aber nicht vollständig – wiederholen, wie das Grau sich plötzlich aufspaltet in eine Farbpalette von Grau, Weiß, Gelb, Blau …. Wie die Muster ineinander fallen und Bewegung mit einemmal zu einem Bild wird.

Es ist aber nicht nur das intensive Schauen dessen, was ihn umgibt, dass Jürgen Middelmanns Malerei antreibt. Sie entsteht – oder vielmehr: steht auch auf festem Grund - nämlich der ernsthaften Auseinandersetzung mit den Werken bekannter Künstler.

Stellvertretend möchte ich hier den spanischen Bildhauer Eduardo Chillida nennen. Sie finden in Jürgens Arbeiten keinen direkten Anklang an Chillida, und doch ist er für die Entstehung von Organic System von großer Bedeutung.

Vielleicht kennen Sie Chillidas Werke. Vor dem Kanzleramt steht beispielsweise eins: schwere Stahlstreben, aufeinanderzustrebend, ineinanderverflochten. „Man spürt in ihnen“, so Jürgen Middelmann, „die Kraft des Wachsens, die Kraft des Bildens.“ Und: „Er bildet Natur nicht ab. Er übersetzt sie.“ Und zwar nicht nur in Skulpturen, sondern auch in Worte. In einem seiner Gedichte schreibt Chillida:

Was liegt hinter dem Meer und mir, der ich es schaue?
Was liegt hinter dem Meer und mir, der ich es höre?

Ich sah nicht den Wind,
ich sah die Wolken ziehen.
Ich sah nicht die Zeit,
ich sah die Blätter fallen.

Ich verstehe fast nichts, aber der Raum ist schön,
schweigsam und vollkommen.
Ich verstehe fast nichts, aber ich habe teil am Blau,
am Gelb und am Wind.

Ich stelle nichts dar, ich frage.

„Ich stelle nichts dar, ich frage“
Mit diesem Zitat möchte ich Sie nun einladen, alles Gesagte wieder zu vergessen und sich dem Schauen zu überlassen, den wunderbaren Farben und Formen, dem Ineinanderfallen von Ruhe und Bewegung. Ich wünsche Ihnen viel Freude.

Anja Martin, Bonn