Der Pendler

Es ist immer die gleiche Strasse. Abwärts: Himmel, Wolken, Wasser – oder Schneespiegel, Felsen, Berglandschaft, Kurven wenige Bäume, dann viele Bäume, Palmen. Dann, aufwärts: Kurven, Palmen, viele Bäume, dann weniger Bäume, Felsen, Berglandschaft, Himmel, Wolken, Wasser – oder Schneespiegel. Dort bewegt sich der Pendler, rauf runter runter rauf rauf runter runter rauf. Jeden Tag. Hin und zurück. Links die aufgehende Sonne, links die untergehende Sonne. Und manchmal ergibt es sich, dass der Pendler sich fragt: bin ich auf dem Hinweg oder bin ich auf dem Rückweg? Denn jedes Mal, wenn er geht, kommt er zu etwas zurück, jedes Mal, wenn er zurückkommt, geht er zu etwas hin. Der Pendler stellt sich viele Fragen. Vor allem aber beobachtet er. Die Strasse ist immer die gleiche, die Landschaft auch: eine Topographie, die ihm so bekannt ist wie die Schwielen und die Falten seiner Hände, eine Landschaft, die ihm auf die Nerven geht. Jeden Tag die gleiche Gereiztheit, die gleiche Empfindlichkeit. Er wünscht sich, nicht dort sein zu müssen, dort durchzufahren, weg, ein für alle Mal weg, doch tief im Innern weiß er, dass er in Wirklichkeit nur dort sein möchte, weil er der Verführung unterliegt. Die Gereiztheit kommt nicht von der Landschaft sondern von der Verführung, die von dieser Landschaft ausgeht, so hart und steil, von einer eisigen Schönheit, und die dann unten ganz sanft zu werden scheint in ihrer Wärme und Sinnlichkeit, welcher der Pendler seit eh und je ausgeliefert ist und die ihn zum Pendler macht, genau dort, rauf runter runter rauf, und ihn gefangen hält.

Plötzlich entdeckt der Pendler, dass die Landschaft, das Tal, an diesem Morgen anders sind als gestern. Schlagartig fällt ihm ein Unterschied auf. Es ist nicht nur die kaum wahrnehmbare und plötzliche Veränderung des Lichts, der Farben, des Wetters: er ist es, der das Bild heute anders wahrnimmt. Wochenlang, monatelang denkt er darüber nach. Endlich ist er sich bewusst:: er erkennt den steten Fluss der Jahreszeiten, merkt, wie seine Stimmung den Blick auf die Landschaft filtert, wie seine Gefühle und Eindrücke ihn verändern, auch abhängig von dem, was auf dem Weg geschieht – jede Reise ist ein persönlicher Augenblick des Lebens, hart oder leicht, je nachdem; doch nicht nur: da überquert ein Hund die Strasse, eine Wolke bildet einen Schattenfleck, genau dort wo diese Bäume stehen, ein Laster zwingt ihn zu verlangsamen und erlaubt ihm einen Blick hinter einen Gartenzaun, hinter ein Tor.

Der Pendler beschließt eines Tages, dass es nun an der Zeit sei, dies zu verarbeiten. Das alltägliche Erleben genügt nun nicht mehr. Die Zeit der Reflexion dieser alltäglichen Erfahrung ist gekommen, sie braucht eine Form, eine Spur muss festgehalten werden. Er möchte ein Buch daraus machen, ein Tagebuch schreiben. Und das tut er auch, in der einzigen Form, von der er weiß, dass sie ihm wirklich ähnlich ist: das Bild, das heißt Zeichen, Gestus, Farbe, Komposition, auch Wort, doch Wort als ästhetische Spur, als formales, nicht erklärendes Element.

Der Pendler malt ein Bild: der Berg an einem Tag während der Eisschmelze. Der Horizont liegt hoch, der Himmel ist grau, die Bergwände bilden die einzige warme Note in einer erdigen Orangefarbe. Und dann dieser große vereiste See, weiß und bläulich, in einem gedämpften, monumentalen Schweigen. Nur hier, im Vordergrund, ein leichtes Gurgeln des Wassers, ein Lärm, wie von einem kleinen Aufprall. Man fühlt es zwischen den Fingern dieses eisige Wasser, noch mit Schneebrocken vermischt, das Steine und Moos durchscheinen lässt. Was will er eigentlich, der Pendler, mit diesem Bild? Er will Zeugnis ablegen über einen Ort, einen der Orte, an denen er lebt, eine seiner Endstationen, ihn geografisch nachweisen, in seiner Beschaffenheit in genau diesem Moment. Doch er will die Landschaft auch so zeigen, wie sie in genau diesem Moment für ihn ist; heute fühlt er die Landschaft in ihrer Schwere, sie lastet auf ihm wie nasser, fauler Schnee, den man nicht einmal mit dem Schuh bewegen kann. Am nächsten Tag hingegen kann es vorkommen, dass die Szenerie ihn leicht, durchsichtig umfängt: dann entstehen luftige, kaum fassbare, unerwartet zarte Aquarelle. Dann wird derselbe Ort fast mystische Vision, aus langen orientalisch, zen, anmutenden Leeren bestehend. Die Landschaft wird eher heraufbeschwört als dargestellt, durch leichte Spuren und zarte Schatten auf einer blendenden Oberfläche entsteht sie in der Erinnerung, als wäre sich der Pendler dieser Geografie nicht mehr so sicher und fragte sich, ob es nicht etwa ein Traum sei.

Es entsteht also ein Reisetagebuch, dessen Etappen einen täglichen körperlichen und seelischen Weg nachzeichnen. Die Hand des Pendlers geht zwischen Leinwand und Papier hin und her, sie hinterlässt Zeichen, Worte, Spuren eines Dagewesenseins, Licht- und Schatteneindrücke, vertraute Gefühle und Grenzerfahrungen, ironische Distanz als Zeugnis der eigen Anwesenheit an bestimmten Orten.

Waagerechte, lange und enge Formate, die als Sequenz zu lesen sind, die von Beklemmung, Eingeschlossensein und Zwang erzählen, von steil abfallenden Felswänden, die eine Flucht unmöglich machen und vor denen man eigentlich gar nicht fliehen will, weil diese nicht zu unterdrückende Spannung Voraussetzung für Schöpfung und Sinngebung ist.

Doch wo findet dies alles statt? Es wurde schon gesagt, auf dem täglichen Weg des Pendlers, vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel. Doch die Frage ist jetzt: wo findet dies konkret statt? Alles in dem Atelier des Pendlers, zwischen alten und dicken Mauern, am Fuße eines steil ansteigenden Felsens mit gegliederten Umrissen. An der Endstation des alltäglichen Weges befindet sich somit ein abgeschlossener Raum. Ein intimer, unbeweglicher Ort, ein Gegensatz zum unaufhaltsamen Fließen der Landschaft während der täglichen Reisen. Ein Ort der Stabilität, der Ruhe und Konzentration, an dem das Bewegliche Form annehmen kann. Hier kommen auch jene Interieurs ans Licht, die nicht minder zersetzt und steil, nicht weniger übertrieben und beweglich sind wie die Landschaften, aus denen sie hervorgehen.

Text auszugsweise aus „Der Pendler“
Paola Tedeschi-Pellanda